Schau genau hin

Wie werden Überzeugungen geboren? Woher kommen Einsichten? Wann weiß man, was richtig ist? Fragen über Fragen, die nichts mit großer Philosophie zu tun haben, sondern die die Grundlagen eines verantwortungsvollen Lebens markieren. Jürgen Schulz nähert sich dem Ganzen und untersucht, was Perspektiven Bestand gibt. Und wie sie sich verändern.

Dieser Beitrage ist im LZA-Journal 2/2025 Perspektive haben erschienen.

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„Was siehst du? Was fällt dir auf?“ Meine Studierenden hören diese Frage immer und immer wieder. Wir bearbeiten einen Text aus dem Propheten Jesaja. Sie haben den Abschnitt gelesen. Mehrfach. In verschiedenen Übersetzungen. Jetzt sehen wir uns den Text gemeinsam an. Wir diskutieren und stellen viele Fragen: „Wer spricht hier im Text?“ „Diese Aussage erinnert mich an Berichte über den Auszug aus Ägypten. Dabei dachte ich, dass wir gerade über das Exil in Babylon reden. Wie passt das zusammen?“ „Warum gehen sie nach Norden in die Gefangenschaft, wenn Babylon doch im Osten liegt?“ Ich freue mich über jede Frage, die gestellt wird. Und umso genauer sie hinschauen, desto mehr Fragen kommen. Mit jedem neuen Semester nehmen sie immer mehr wahr und durchschauen biblisch-theologische Zusammenhänge. Wir nehmen uns Zeit. Wir müssen den Text verinnerlichen. Er muss uns begleiten. Auf uns und in uns wirken. Den Studierenden sage ich: „Wir müssen mit einem Text schwanger gehen.“ Eine Schwangerschaft dauert. Wir Menschen brauchen Zeit, um zu verstehen und Zusammenhänge zu erkennen. Alles beginnt mit genauem Hinsehen und Fragen stellen.

Auf gar keinen Fall!
Petrus schaute genau hin. Er war voller Fragen. Die Vision, die er gerade erlebte, irritierte ihn zutiefst. In Apostelgeschichte 10 werden wir in die Details einer besonderen Gottesbegegnung mit hineingenommen. Petrus hatte sich für das Mittagsgebet zurückgezogen. Er wollte beten, während seine Gastgeber ihm ein Essen zubereiteten. Und während er betete, sieht er eine Vision. Aus dem Himmel wird etwas wie ein großes Leinentuch heruntergelassen. Darin befanden sich alle möglichen Tiere. „Auf, Petrus, schlachte und iss.“, hört er eine Stimme sagen. „Auf gar keinen Fall, Herr!“, widerspricht Petrus. Er hat genau gesehen, was da für Tiere im Leinentuch sind. Tiere, die für ihn als Juden als unrein und unheilig gelten. Tiere, die er nicht essen soll und in seinem ganzen Leben bisher noch nicht gegessen hat! Alles in Petrus sträubt sich gegen diese Aufforderung aus dem Himmel. Er wehrt sich. Egal wie hungrig er auch ist, diese Tiere wird er nicht essen. Dreimal wird er aufgefordert zu essen. „Was Gott für rein erklärt hat, das behandle du nicht, als wäre es unrein.“, sagt ihm die Stimme aus dem Himmel (Apg 10,15). So unvermittelt wie die Vision aufgetreten ist, ist sie dann auch vorbei.

Wie kann er nur?
Und Petrus rätselt. Als frommer, gottesfürchtiger Mensch kann er diese Tiere nicht essen. Er hat genau hingesehen. Er hat die Stimme wahrgenommen und verstanden. Die Zusammenhänge machen aber einfach keinen Sinn. Wie kann die Stimme aus dem Himmel so deutlich den jüdischen Vorschriften, Gottes Geboten, widersprechen? Hunger, Gebet, Hinsehen, Fragen, Rätsel. In diesem Mittagsgebet muss einiges durchs Herz des Petrus. Gott mutet uns Menschen manchmal schon einiges zu. Er ist mit Petrus auf dem Weg. Die Unklarheit, das Nachdenken und Rätseln über die Vision, es ist wichtig, dass Petrus all das erlebt. Petrus muss mit dieser Vision schwanger gehen. Die Zusammenhänge sind für eine schnelle Erklärung schlicht zu groß. Petrus wird in den nächsten Tagen tiefgreifende Veränderungen erleben. Diese Vision bereitete ihn genau darauf vor. Petrus sieht hin und rätselt.

Wir brauchen Zeit dafür
Unsere Zeit ist von Bildern geprägt. In keiner anderen Zeit wurden täglich so viele Fotos und Videos gemacht. Wir schauen hin, und verlieren dabei manchmal doch den Überblick. Kaum einer hat noch eine Kontrolle über die tausenden Fotos in der Handy-App. Wir sehen hin, ohne hinzusehen. Wir sind überfordert und frustriert. Nicht, weil die Bilder an sich uns überfordern. Wir scheinen die Kontrolle über die technischen Möglichkeiten zu verlieren. Unser Leben gerät aus den Fugen, anstatt dass wir die Möglichkeiten nutzen, um unser Leben zu verschönern. Aber ist das nicht der eigentliche Grund, warum wir Fotos machen? Um schöne, faszinierende Momente festzuhalten, über die wir nachdenken, träumen und rätseln können? Doch dafür brauchen wir Zeit. Als Petrus noch rätselte, steht eine Gruppe von Männern, Boten eines römischen Offiziers namens Kornelius, vor der Tür. Sie wollen Petrus abholen. Und das Rätsel fängt an sich aufzulösen. Normalerweise wäre Petrus niemals mitgegangen. Er geht nicht in das Haus eines Nichtjuden. Genauso wenig wie er unreines Fleisch isst. Aber er hört wieder eine Stimme. „Geh mit ihnen mit.“ (10,20)

Gott reißt Grenzen ein
Die Welt verändert sich. Petrus erlebt, wie Gott sich mit ihm auf den Weg macht, ihn herausfordert und er mit ihm eine Welt betritt, die undenkbar war. Er, ein Jude, wird zu Kornelius, einem Römer, geschickt. Unvereinbare Welten treffen aufeinander. Von Gott arrangiert, staunt Petrus über die Zusammenhänge. Er und Kornelius sind durch den Glauben an Jesus Christus miteinander verbunden. Ihre unterschiedliche Nationalität und Ethnie ist kein Hindernis mehr. Jetzt versteht auch er die Vision: „Gott fragt nicht danach, zu welchem Volk jemand gehört, sondern nimmt jeden an, der Ehrfurcht vor ihm hat und tut, was gut und richtig ist.“ (10,35) Petrus sieht, wie Gott Grenzen einreißt. Er nimmt wahr, dass Gott ein ganz anderes Bild gestaltet. Gottes Vorstellungen verändern die Welt des Petrus.

Petrus sieht und versteht
Wer mit offenen Augen durch diese Welt geht, oder wie meine Studierenden, Texte liest, wird Feinheiten, Ideen und Zusammenhänge entdecken, die faszinierend sind. Was wir sehen und verstehen, fordert uns heraus. Weil Gott Petrus eine neue Welt gezeigt hat, kann und will er nicht mehr in der alten Welt leben. Dass alle Menschen, auch ein römischer Offizier, zu Gottes Gemeinde gehören können, wenn sie an Jesus glauben, ist für Petrus lebensverändernd. Dass der christliche Glaube für alle Menschen offen ist, ganz gleich des sozialen Standes, der ethnischen Zugehörigkeit und des Geschlechts, verändert die gesamte Dynamik in der frühen Kirche. Apostelgeschichte 10 markiert einen Wendepunkt. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. Die Christenheit ist vielfältig, und doch ist sie eine. Die Offenheit und Vielfalt innerhalb der Gemeinde ist für Petrus ein unglaublicher Grund zur Freude. Gott hat Grenzen neu definiert, also hält er auch nicht an alten Grenzen fest. Petrus sieht hin, ändert seine Perspektive und trifft eine für ihn bis dahin undenkbare Entscheidung: Kornelius wird getauft (10,47). Wer einen Bibeltext liest und anfängt genauer hinzusehen, wird sich schnell fragen: „Was sehe ich eigentlich?“ Beobachtungen allein reichen aber nicht aus. Zu den Fragen gehören auch die Antworten, was du siehst. Und mit den Antworten entstehen neue Fragen. Ohne den Mut, Antworten zu formulieren, werden unsere Studierende nie eine Hausarbeit abgeben. Wir müssen es lernen, Entscheidungen zu treffen, während wir mit offenen Fragen leben.

Die Schönheit des Evangeliums
Petrus sieht hin und als er die Zusammenhänge versteht, formuliert er seine Antwort. Mit der Taufe eines Nichtjuden entstehen dann aber auch ganz neue Konflikte. Die erste Begegnung zwischen Petrus und dem Offizier in Cäsarea ist geprägt von der Euphorie des Neuen. Auch Nichtjuden können Christen werden. Es dauert aber nicht lange und ernsthafte Konflikte belasten die Gemeinde. Wenn Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten, ethnischen Hintergründen, mit unterschiedlichen moralischen Vorstellungen zusammentreffen, werden tiefgreifende Auseinandersetzungen stattfinden. Durch die Vielfalt in seiner Gemeinde schafft Gott eine besondere, herausfordernd schöne Dynamik. Umso eher wir anerkennen, dass Gottes Gemeinde ein Ort ständiger Konflikte ist, umso eher wird uns die besondere Schönheit des Evangeliums faszinieren. Durch den Glauben eröffnet Gott uns den Zugang zu einer Welt, die uns freuen, überraschen aber auch erschrecken wird. Diese für uns neue Welt nennen wir Gottes Reich. Hier ist aber das Entscheidende: wir definieren nicht die Grenzen dieses Reiches. Wir bestimmen nicht die Spielregeln. Wenn wir uns aber auf Gottes Idee, auf sein Bild von Gemeinde einlassen, werden wir ein unfassbar schönes Leben kennenlernen. Gott hat Petrus sehr eindrücklich deutlich gemacht, dass auch Nichtjuden durch Jesus dieses Leben erhalten haben (Apg 11,18). Gemeinsam, in der Vielfalt, wird das Leben schön. In Gemeinschaft treten aber auch schnell Konflikte auf. Und wir fühlen uns überfordert. Wenn Christsein bedeutet, sich mit ständig auftretenden Konflikten auseinander zu setzen und ständig Veränderungen gestalten zu müssen, wie können wir dann einen ruhigen und friedlichen Alltag haben? Indem wir hinsehen und Veränderungen zum Guten mitgestalten.

Wir brauchen den Willen
Niemand hält dauerhaft Streit und Ärger aus. Und auch die Gemeinschaft unter Christen soll nicht von dauerhaften Streitigkeiten geprägt sein. Dafür braucht es aber die Bereitschaft zu Handeln. Ein Streit wird nur überwunden, wenn er beigelegt und der Konflikt geklärt werden kann. Durch eine gute Konfliktbeschreibung ist noch kein Konflikt gelöst worden. Wir brauchen den Willen, um hinzusehen, Zusammenhänge zu erkennen, und auch Entscheidungen zu treffen. Petrus entdeckt eine neue Schönheit und Faszination des Lebens. Er sieht genau hin und stellt sich dem Konflikt. Er rätselt und diskutiert. Und als er Gottes Perspektive versteht, ist er zutiefst erstaunt. Gott verändert die Welt – und mit ihr Petrus.

Dr. Jürgen Schulz, verheiratet mit Lydia und Vater von vier Kindern, ist seit Januar 2023 Rektor des Theologischen Seminars Adelshofen. Er hat eine tiefe Liebe zur Gemeinde und eine Leidenschaft für das Alte Testament.

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